Schwiegermutters Kochkunst: Warum uns vertrauter Geschmack so wichtig ist

Rezept handschriftlich

Schwiegermutters unerreichtes Rezept

Vom Klischee der unerreichbar guten Küche der Schwiegermutter leben ganze Boulevardkomödien.

„Und, wie ist das Essen, Schatz? Ich habe dir extra dein Lieblingsgericht gekocht!“

„Also, bei meiner Mutter hat das immer anders geschmeckt.“

Empörung, Ehekrise, Vorhang.

So banal das klingt: Die Situation hat tatsächlich viel mit dem echten Leben zu tun. Denn wie Forscher herausgefunden haben, reagiert das Geschmacksgedächtnis sehr empfindlich auf Abweichung vom Bekannten. Versuchspersonen bekamen bei verschiedenen Versuchsterminen Gerichte (beispielsweise ein Dessert) zu essen und sollten im Nachhinein beurteilen, ob es das gleiche war wie beim letzten Mal. Handelte es sich nicht um das gleiche, sondern nur um ein ähnliches Produkt, so konnten sie die Abweichung mit viel größerer Sicherheit erkennen als die Übereinstimmung: „Nein, das hat definitiv anders geschmeckt.“

Offenbar funktioniert die Erinnerung für die Nahsinne Sehen und Schmecken grundsätzlich anders als die für die Fernsinne Sehen und Hören. Bei Bildern oder Geräuschen erkennt das Gehirn nämlich eher Übereinstimmung als Abweichung.

Das Übereinstimmungsgedächtnis

Scheint mir einleuchtend. Ich stelle mir da den Jäger-und-Sammler-Urmenschen vor, der vor einer Baumgruppe im Wald steht und überlegt, ob es hier noch mal rechts zur Höhle ging. Eher ungünstig: Er guckt die Bäume an und denkt: „Hmm, nee, irgendwie sahen die anders aus. Aber wie noch mal genau? Waren es die da drüben? Oder doch die da hinten?“ Hier ist es also besser, das Gehirn signalisiert ihm bei einer bestimmten Baumgruppe ganz eindeutig: „Die war’s!“

Das Abweichungsgedächtnis

Schafft es derselbe Urmensch, die Höhle zu erreichen, die mitgebrachten Pilze in ein paar Blätter zu wickeln und im Feuer zu garen, dann kommt als Nächstes das Geschmacksgedächtnis zum Zuge. Solange alles so ist wie immer ‒ wunderbar. Sobald auf der Zunge aber ein neuer Geschmack registriert wird, schlägt das Gedächtnis Alarm: „Achtung, Abweichung! Hast du doch den Giftpilz mitgenommen? Kommando: Ausspucken!“

Eine durchaus sinnvolle Sache also, dass das Gehirn bei der Unterscheidung von Bekanntem und Unbekanntem im einen Fall die Übereinstimmung, im anderen die Abweichung identifiziert. Zum Problem wird das allerdings nicht nur für die Boulevardkomödien-Schwiegertochter, die sich so lange am übermächtigen Vorbild der Schwiegermutter abarbeitet, bis die ihr das genaue Rezept verrät (oder die Maggiflasche in die Hand drückt).

Champignons in Schale

Der gleiche Pilz wie gestern? Hoffentlich.

Wat der Buer net kennt, dat fräät er net

Ein Problem haben auch Lebensmittelproduzenten, die an der Rezeptur ihrer Produkte etwas verändern wollen oder müssen. Der gemeine Konsument reagiert auf die Abweichung vom Gewohnten gerne mit Verweigerung. Fast schon klassisch ist das Beispiel von Frosta, dem Hersteller von Tiefkühlgerichten, der von jetzt auf gleich Aroma- und Ersatzstoffe aus den eigenen Produkten verbannte und dafür von den Verbrauchern empfindlich abgestraft wurde. (Die Geschichte hatte dann doch ein Happyend.)

Übrigens geht es bei diesen Gedächtnisfunktionen wirklich nur um den banalen Vergleich von Sinnesreizen. Für die Erinnerung an Erlebtes ist eine andere Hirnregion zuständig, die natürlich zusätzlich eine Rolle spielt. Selbst wenn also die Schwiegertochter in Zukunft brav an das Lieblingsgericht des Ehegatten noch einen Löffel Maggiwürze gibt ‒ genau wie die Schwiegermutter ‒, könnte es sein, dass ihr das nichts nützt: Weil sie nie dagegen ankommen wird, dass ihr anspruchsvoller Esser das Gericht außerdem mit der Erinnerung daran verknüpft, wie ihm die Mama den Kopf tätschelte und sagte: „Iss, mein Junge, damit du groß und stark wirst.“

Der Boulevardkomödie bleibt also jede Menge Stoff, aus dem sich Ehekonflikte stricken lassen.

Quelle:

Ina Schicker, „Dasselbe wie immer? Lebensmittel und Gedächtnis“ in: DLG Lebensmittel 02/2012, S. 16-17.

14 Gedanken zu “Schwiegermutters Kochkunst: Warum uns vertrauter Geschmack so wichtig ist

  1. Eva

    Herrlich! :-) Welcher Baum wies gleich Richtung Höhle…
    Da scheine ich irgendwie Glück gehabt zu haben (oder die Kochkünste des Schwiegermutter waren zu der Zeit stark von finaziellen Engpässen eingeschränkt), Herr H. hat noch niemals angemerkt, es habe ihm früher zu Hause besser geschmeckt. ;-)

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Ich muss sagen, ich habe da auch weniger aus eigener Erfahrung geschöpft als aus (vermutetem) Boulevardtheater. ;-) Schätzungsweise ist das ohnehin ein Problem, das eher die Generation vor uns betroffen hat. Daher auch meine hochkünstlerische Illustration des Artikels mit einem Foto aus dem handgeschriebenen Kochbuch meiner Oma. Viel Sütterlin kann ich ja nicht lesen, aber das „Maggi“ bei fast jedem Rezept, das kann ich entziffern!

  2. Anne

    Was für eine eigentlich banale, aber logische Erklärung dafür, dass mein eigener Gurkensalat mir nie so schmeckt wie der, den meine beste Freundin zu Studienzeiten zu unseren gemeinsamen ABenden machte! Ich schwelge jetzt noch ein wenig in Erinnerungen. Schöne Geschichte! VG Anne

  3. Mirjam

    Liebe Sabine,

    vielen Dank für die tolle Erklärung! Mir geht es meistens umgekehrt so. Ich will etwas kochen, was bei meinem Papa immer lecker schmeckt, und alle anderen loben es, nur ich bin davon nicht überzeugt ;-) Aber zum Glück wird es so nie langweilig beim Kochen.

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Stimmt, irgendwie erhöht es ja tatsächlich die Abwechslung in der Küche, wenn es immer ein winziges bisschen anders schmeckt als gewollt … ;-) Nicht aufgeben! Vielleicht triffst Du den für Dich richtigen Erinnerungsgeschmack noch ganz zufällig.

  4. Die Küchenschabe

    Was ich auch ganz toll finde, ist die Sache mit dem Geruch. Wenn man zu einer bestimmten Situation einen Geruch abgespeichert hat, dann taucht diese Situation sofort wieder auf, sobald man diesen Geruch wieder in der Nase hat. Bei mir der Geruch von Holzfeuer = Bei Oma in der Küche :-)

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Stimmt – und das kann manchmal zu ganz schönen „Hä?“-Effekten führen. Ich hatte das mal, dass ich beim Durchblättern einer Frauenzeitschrift urplötzlich das Bild von irischen grünen Hügeln und Regen auf der Windschutzscheibe vor mir sah – absolut ohne jeden Zusammenhang mit dem Gelesenen. Es hat etwas gedauert, bis ich drauf kam, dass in dieser Zeitschrift eine Duftprobe steckte: genau von dem Parfüm, das die Freundin, mit der ich nach dem Abi durch Irland gereist bin, damals immer getragen hat. Ist zwar kein kulinarisches Beispiel, aber seitdem weiß ich um die Macht von solchen Geruchserinnerungen. Holzfeuer und Omas Küche ist natürlich noch mal schöner. Zumal man es auch öfter riecht. :-)

  5. Barbara

    Klasse-Beitrag! Und es ist wirklich völlig irre, wie tief solche Geschmacks- und Geruchserinnerungen in einem verwurzelt sind. Aber der psychologisch-wissenschaftliche Hintergrund, der im Ernstfall sogar lebensrettende Funktion entwickeln kann, war mir so nicht bewusst. Dankeschön für’s Erklären! Und deine Schreibe mag ich ja sehr… :)

  6. Anna

    Hihi, ich hab da wohl Glück mit meinem Mann. Er hat noch nie gesagt, dass bei seiner Mutter etwas besser geschmeckt hat. Wir kochen aber auch unterschiedliche Gerichte. Natürlich kommt es auch vor, dass ich mal etwas koche, das es auch früher bei Ihm zu Hause gab , aber auch da schmeckt es ihm immer gut. Ab und zu schmeckt ihm etwas sogar besser als früher. Es gibt Gerichte die er von seiner Mutter etwas anders kennst, aber da sagt er immer nur bei seiner Mutter schmckt es anders aber beides sei lecker. Sehr diplomatisch, nicht? ;-)

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      O ja, diplomatisch – oder einfach nett. ;-) Stimmt, bei uns unterscheidet sich das, was wir so kochen, auch oft ziemlich von dem, was wir von zu Hause kennen. Also wenig Konfliktpotenzial!

  7. Hermann

    Hallo
    noch mal ein kleiner Nachtrag zu den Geschmacks- und Geruchserinnerungen:
    Erwachsene speichern das Meiste über das gesprochene Wort im Gehirn ab. Im Gegensatz dazu kleine Kinder, vor allem die noch nicht sprechen können, speichern über Geruch und Geschmack ab. Das heist, wenn man z. B. nach Jahren einen betimmten Geruch wahrnimmt, dann verbindet und verknüpft man damit mehreres. Bei einem duftenden Brot denkt man vielleicht an die Oma, die ein solches jeden Samstag bug, und an ihr kleines Häuschen mit den schönen Schattenbäumen und den herrlich leckeren Äpfeln. Alles abgespeichert über den Geruch.
    Gruß Hermann

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