Über Scham und Schokotorte

Gerade bin ich auf eine seltsame Fotosammlung gestoßen: Die Huffington Post hat in Bildarchiven gestöbert und eine Serie von Bildern zusammengestellt, die allesamt Frauen mit Süßem zeigen (Desserts, Eis und vor allem: immer wieder Schokotorte). Und keine dieser Frauen sieht glücklich dabei aus. Im Gegenteil: Sie fühlen sich ganz offensichtlich schuldig, schämen sich, versuchen ihre Sünde zu vertuschen.

Schokotörtchen

Die Schwäche Evas im Angesicht der Schokolade

Die Sünde. Das Süße. Natürlich haben die meisten von uns genau solche Bilder schon tausendmal gesehen: Sie bebildern die Psychotipps der Diätstrecken in Frauen- und sonstigen Zeitschriften („Was Sie gegen den Heißhunger auf Süßes tun können: Gönnen Sie sich stattdessen ein schönes Bad, trinken Sie langsam ein großes Glas Wasser oder joggen Sie eine Runde.“).

Tausendmal gesehen, tausendmal darüber hinweggesehen. Weil es so verdammt normal ist, dass leckeres, süßes Essen mit Schuld und Sünde verknüpft wird. (Fing das eigentlich mit Eva und dem Apfel an?) Aber erst die Häufung der Bilder zeigt, wie absurd sie eigentlich sind.

Und wie traurig. Denn was die Fotos sagen, ist ja: Es gibt Vorschriften, Regeln, einen stillen Konsens darüber, dass man (oder nur frau?) so etwas eigentlich nicht zu essen hat. Keine Torte, keine Schokolade, und schon gar keine Mengen davon. Denn, so der Tenor all der Medien und Werbemaßnahmen, die solche Bilder einsetzen, so etwas macht dick, macht krank, macht unglücklich.

Genießen ist Versagen

Man darf nicht. Und wenn man’s doch tut, dann zahlt man dafür mit schlechtem Gewissen und Selbstverachtung, weil man nicht stark genug war, nicht genügend Selbstdisziplin aufgebracht hat, gesündigt hat. Wer also die verbotene Frucht (oder Schokotorte) isst, der soll das doch bitteschön nicht auch noch genießen. Vielleicht sagen die Bilder nicht direkt: „Du darfst das nicht, das ist böse.“ Aber sie zeigen zumindest, dass dieser Gedanke bei vielen Menschen so präsent ist, dass sie die Bildaussage mühelos deuten und sich vermutlich sogar damit identifizieren können.

Die Fotos der Frauen, die gerade monströse Schokotorten aus dem Kühlschrank nehmen und verschämt um sich blickend davon naschen, haben mir einen Buchtitel von Geneen Roth wieder ins Gedächtnis gerufen: When you eat at the refrigerator, pull up a chair* (auf Deutsch erschienen als Gönn‘ dir, was dir gut tut bei Herder, vergriffen).

Geneen Roth gehört zu den Autorinnen, die „intuitive eating“ propagieren: Hör auf die Hungersignale deines Körpers, statt Diäten zu machen. Klar, auch dabei geht es darum, dass dünn gut ist, wie schon der Untertitel des Kühlschrankbuchs zeigt: 50 Ways to Feel Thin, Gorgeous, and Happy (When You Feel Anything But).

Nettsein erlaubt ‒ sogar zu sich selbst

Und trotzdem habe ich bei Geneen Roth ein Zitat zu diesem Buch gefunden, das ich all den beschämt-traurigen Schokotortenfans aus der Huff-Post-Bilderstrecke zurufen möchte:

Most of the people with whom I work „graze“ at the refrigerator while standing up. They pretend they are not really eating, they just happened to pass by the fridge on their way to the phone and thought they’d check if the contents have changed since the last time they looked.
My message is: If you are going to do something, bring all your attention to it and enjoy it for all it’s worth! Pleasure is good! Stop sneaking around. You wouldn’t think of inviting a friend over for dinner and standing with her in front of the refrigerator picking out of Tupperware containers with your fingers–there is no reason to treat yourself that way either. Also, people eat MUCH less when they allow themselves to focus on, taste and enjoy their food.

 

Die meisten der Leute, die zu mir in die Beratung kommen, naschen stehend am Kühlschrank. Sie tun so, als äßen sie gar nicht wirklich, als wären sie nur zufällig auf dem Weg zum Telefon am Kühlschrank vorbeigekommen und hätten lediglich schnell mal gucken wollen, ob sich an dessen Inhalt seit dem letzten Kontrollblick etwas geändert hätte.
Ich dagegen sage: Wenn Sie etwas tun, dann tun Sie es von ganzem Herzen und genießen Sie es! Genuss ist etwas Gutes! Hören Sie auf mit der Heimlichtuerei. Sie würden doch auch keine Freundin zum Essen einladen, um sich dann mit ihr vor den Kühlschrank zu stellen und mit den Fingern aus Tupperdosen zu essen – dann gibt es auch keinen Grund, sich selbst so zu behandeln. Außerdem essen die meisten viel weniger, wenn sie sich auf ihr Essen wirklich konzentrieren, es schmecken und genießen.

Genau: schmecken und genießen. Ich will nie, nie wieder in meinem Leben etwas, das mir schmeckt, mit schlechtem Gewissen essen. Und ich möchte auch nicht von Fotos suggeriert bekommen, das wäre normal. Schokotorte sollte (wenn man sie denn mag) etwas Wunderbares sein, und nichts, was man verstecken muss. Ich wünsche mir, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt.

Und, wie findet ihr die Bilderstrecke? Und kommen euch die gezeigten Situationen und Gefühle bekannt vor?

10 Gedanken zu “Über Scham und Schokotorte

  1. Anette

    So ganz kann ich auch nicht aus meiner Haut, und manchmal habe ich schlechtes Gewissen beim Essen von Süßigkeiten – vor allem beim ungehemmten Konsum von Lakritze (ja, ich bin ein Nordlicht, ich gebe es zu!) und sonstigem Gummizeugs. Aber genauso ärgere ich mich darüber, dass ich diese Beschränkungen zu internalisiert habe.
    Und ich glaube, einen Aspekt machst Du nicht stark genug: Meiner Wahrnehmung nach ist das ein Ding, das wirklich zu fast 100 Prozent auf Frauen gerichtet ist – eine Frau hat hübsch, schlank und enthaltsam zu sein. Wasser statt Schokotorte? Dass ich nicht lache!
    Von daher wird da vor allem mein Feministinnen-Herz angesprochen (und wütend), und erst in zweiter Instanz mein Genießerinnen-Herz.

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Danke für die Ergänzung, Anette. Ja, mir ist klar, dass sich solche Restriktionen vor allem gegen Frauen richten, und finde den Aspekt auch sehr, sehr wichtig. Angesichts der Bilderserie ging es mir aber erst einmal um die erschreckend selbstverachtende Haltung, die darin zum Ausdruck kommt. Zu Genderthemen beim Essen kommen wir auch noch … Ich sammle schon Material.

  2. Eva

    Ich kenne das Buch! Und stimme wie immer zu. Schuldgefühle beim Essen sind es tatsächlich, die dick machen, nicht das Essen an sich. Es ist echt lustig, seit ich angefangen habe zu bloggen und unendlich viele Torten zu backen und zu genießen, bleibt mein Gewicht konstant und ich habe nicht mehr das Bedürfnis zwischendurch zu naschen…

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Spannende Erfahrungen, Eva! Ja, schlechtes Gewissen hilft überhaupt nicht. Am schönsten fände ich persönlich es allerdings, wenn wir davon wegkämen, immer aufs „bloß nicht dick werden“ zu schielen. Aber ich gebe zu, dass ich das auch nicht so locker-flockig ablegen kann. Wie man an den Fotos sieht, wird einem das einfach überall so um die Ohren gehauen – kein Wunder, dass man sich kaum davon freimachen kann.

  3. Chawwa

    Darf ich noch einige kleinere Aspekte beisteuern? Naschen ist für mich der kleine Vorgang zwischendurch, dem von Kindheit an oft das Verbotene anhaftet: vom Kartoffelsalat naschen, bevor er serviert wird, ein heimlicher Krallgriff in die Süßigkeiten, die für Gäste bereitgestellt sind und nicht für die Kinder, aber auch die Teigschüssel auslecken, was meist geduldet wurde – da fallen mir noch viele Beispiele ein. Wer aber verbietet einem Erwachsenen in seinem eigenen Haushalt das Naschen? Richtig, internalisierte Regeln anderer Erwachsener, der peer group, zu der man gehören möchte. Etwas mehr Selbstbewusstsein kann da helfen. Etwas anderes ist meines Erachtens das nebenbei Essen am Schreibtisch, bekannt bei allen Studenten, Freiberuflern, Wissenschaftlern etc., die Hoffnung, mit schnellwirkenden Kalorien den Geist anzukurbeln. Das geht quer durch die Geschlechter. Und wieder etwas anderes ist das, worauf meines Erachtens die Fotos von den ganzen (!)Schokotorten im Kühlschrank abzielen (wer hat sowas eigentlich zu Hause?): das Frustessen, wo eine Ersatzbefriedigung gesucht wird. Männer essen dann gerne Salami oder andere Wurst, sofern der Kühlschrank das hergibt. Mein Kühlschrank gibt beides nicht her. Häufig aber kalte gekochte Kartoffeln…..

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Danke für die zusätzlichen Aspekte! Ich bin mir allerdings persönlich nicht sicher, ob die Fotos wirklich nur auf Frustessen abzielen. Es gibt ja durchaus auch den Jieper, der einen manchmal ganz ohne Frust überfällt. Bei mir gibt es übrigens neben Schokoladenjiepermomenten auch durchaus Herzhaftjiepermomente. Dann greife ich zu Käse – oder Käsetoast. (Kalte Kartoffeln dagegen sind vor mir so was von sicher!)

  4. Ariana

    Die Fotoserie ist ganz klar erkennbar mit Models dargestellt, also nichts mit Echtheit. Ich leugne nicht, dass auch ich ein schlechtes Gewissen nach Schokokonsum habe, aber uns weis machen zu wolen die Bilderreihe sei „echt“ ist unverschämt!
    Für wie blöd genau werden wir Frauen eigentlich gehalten?

    1. Bissige Werkatze

      Bei dieser frauenhassenden Gesellschaft…
      Das ist eine gute Frage. 🙄
      Ich würde mich übrigens sehr freuen mal davon zu hören daß es noch andere Hedonistinnen gibt.
      Das erinnert mich an den versuch kaubonbons zu machen. Aus Erythrit, Haferflocken, Kakaou, Chilli und Süßholz 😋
      Es sind keine Bonbons geworden, sie sehen eher aus wie Plätzchen, aber sind trotzdem lecker

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