Kulinarische Sehnsüchte, oder: Zu Besuch in London

London war für mich schon immer ein Sehnsuchtsort. Aus meinem einen Auslandsstudienjahr in Reading sind mir weder die Uni noch meine unmittelbare alltägliche Umgebung im Gedächtnis geblieben, sondern die Tage, an denen ich morgens den Zug nach London Paddington bestieg und erst abends spät zurückkehrte, ganz beschwingt von Spaziergängen und Museen und Parks und Märkten und Theater und Konzerten und Restaurants.

Seitdem steht London bei mir für … ich kann es nicht anders ausdrücken: Reichtum des Lebens. (Schon klar, dass sich die Stadt darauf nicht reduzieren lässt und dass mir die stressige, laute, teure, hastige Alltagserfahrung dort gänzlich fehlt. Aber was soll’s ‒ mein persönliches Londonbild erhebt keinen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit.)

Diese Woche sind wir zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder zu einem ausführlichen Besuch hier ‒ und diesmal stelle ich noch stärker als sonst fest, dass die Stadt auch in anderer Hinsicht ein Sehnsuchtsort ist.

Sehnsucht nach einem besseren Leben, nach besseren Möglichkeiten hat über Hunderte von Jahren hinweg immer wieder Menschen von überall her in die Stadt gespült. Ihre Sehnsucht nach einem Stück Heimat in der Fremde zeigt sich auf den bunten Märkten, in den pakistanischen, türkischen, polnischen, vietnamesischen, senegalesischen und und und Lädchen, Restaurants und Imbissen.

Für mich wird diese Heimwehküche zur Fernwehküche. Beim Bummel durch Southall reisen wir wieder nach Indien (oder, korrekt gesagt: zum indischen Subkontinent, denn in Southall kann auch pakistanisch sein, was indisch aussieht). Alles da: Sari-Shops, Süßigkeitenläden, sogar die Hochzeitswerbung ‒ komplett mit verräterischen rotbraunen Flecken. Hier wurde Paan gekaut. Im Paan-Laden an der Ecke kaufen wir uns zwei Päckchen der harmlosen Sorte. Schließlich wissen wir schon, dass am Ende des Tages Verdauungshilfe angebracht sein könnte.

In einer Hinsicht ist der Besuch in Southall sogar besser als die Fahrt nach Indien: Hier trauen wir uns endlich an Panipuri heran, populäres indisches Streetfood, das wir uns in Indien dann doch immer verkniffen haben ‒ wegen des Tamarindenwassers (also eigentlich wegen des Wassers). Panipuri sind kleine, sehr knusprige hohle Teigbällchen. Der Verkäufer stößt mit dem Finger ein Loch hinein und füllt sie mit ganz unterschiedlichen Dingen: hier mit Zwiebelwürfeln und einer Mischung aus zerquetschten Kartoffeln und Kichererbsen. Darüber kommt Tamarindenmark, zusätzlichvnoch Chiliwasser. Und dann heißt es schnell essen, bevor die fragilen Teiggefäße durchgeweicht sind!

Panipuri in Southall, London

Ein paar Stände weiter gibt es Eis am Stiel, auf indische (pakistanische?) Art: Die Milcheismischung (schmeckt wie gezuckerte Kondensmilch in kalt ‒ für mich ein Fest!) gefriert in Metallhülsen in einem Behältnis mit Salz-Eis-Wasser.

Auf dem Brixton Market träumen wir uns in die Karibik (ich) und nach Afrika (M.). Aber hier schleicht sich durchaus auch ein Gefühl der Fremdheit ein. Selbst wenn ich hier eine Küche (und viel Zeit zum Kochen) zur Verfügung hätte: Wer könnte mir bloß erklären, was ich Leckeres aus Salzfisch, Kutteln, Schweinefüßen und drei Sorten Yams zubereiten könnte?

Ähnlich fremd fühlen wir uns, als wir uns in einem chinesischen Imbiss-Restaurant mit der ausladenden Speisekarte konfrontiert sehen. Leicht hilflos sehen wir zu, wie an allen anderen Tischen chinesisch aussehende Gäste (vor allem junge Leute in Ausgehkleidung) sich durch alle möglichen Suppen und Breie schlürfen. Ich wünsche mir einen kundigen Kulturvermittler, der mir versichert, dass dieses Durcheinandergekochte auf Reisbasis, das am Nebentisch so seltsam Fäden zieht, wirklich lecker und probierenswert ist (und wie es auf der Karte heißt). So bleiben wir bei Chili-Bohnen und Mapo-Tofu. Was wunderbar schmeckt, mir in diesem Moment aber ein bisschen feige vorkommt.

Zumindest bei den Getränken fühle ich mich abenteuerlustig und bestelle Eistee aus Grüntee mit Water Grass Jelly darin, die in langen Streifen durch den Strohhalm flutscht, auf der Zunge angekommen aber keinen besonders aufregenden Geschmack entfaltet.

Auf dem Borough Market, der meinem 18 Jahre alten Lieblings-London-Reiseführer noch kaum mehr als drei Zeilen wert war, sich aber in den letzten zehn Jahren zum Feinschmeckerparadies entwickelt hat, geht es vertrauter zu ‒ und dann auch wieder nicht: Bunten Blumenkohl, britische Rohmilchkäse und Damsons (Kriechen- oder Haferpflaumen) finde ich zu Hause dann doch nicht so ohne Weiteres.

Sehr viel Genuss, reichlich Fernweh, eine kleine Prise Fremdheit und vor allem die Sehnsucht danach, eine solche Fülle kulinarischer (und sonstiger) Angebote ständig und immer verfügbar zu haben: Das ist für mich London.

 

11 Gedanken zu “Kulinarische Sehnsüchte, oder: Zu Besuch in London

  1. Eva

    Ah, es klappt. Gestern konnte ich bei dir keinen Kommentar veröffentlichen…
    Du bloggst sogar im Urlaub, unerhört. ;-)
    Wenn ich in einem Land bin, in dem ich mich so gar nicht ausknne, beobachte ich die Einheimischen akribisch und mache einfach alles nach…

  2. Sabine Schlimm Artikel Autor

    Hmm, so was – warum ging denn das bloß mit dem Kommentar nicht?! Hoffentlich kommt das nicht öfter vor. Rätsel der Technik. Ja, das mit dem Nachmachen hilft mir auch oft weiter. Aber manchmal bräuchte ich halt jemanden, der mich an der Hand nimmt und mir erklärt, was mich erwartet. Bei fadenziehenden chinesischen Reisgerichten zum Beispiel …

  3. Die Küchenschabe

    Hey super, da ist er ja, der ausführliche (könnte allerdings ruhig noch ausführlicher sein) London-Bericht :-) Seit wann kennst du Southall? Warst du schon oft dort? Wenn ja, ich hätte sehr gerne ein paar Adressen, immerhin fliegen wir Ende November nach London, und ein Southall-Besuch gehört dazu. Überhaupt wäre ich sehr froh über jede Genuss-Adresse. Für mich ist London, genau wie für dich, ein Sehnsuchtsort. Und auch wenn ich weiß, dass die unterschiedlichen Nationalitäten dort noch immer viele Probleme haben, sehe ich doch, dass sie mindestens zwei Generationen weiter in Sachen Integration sind, als hier bei uns in Österreich.

  4. Sabine Schlimm Artikel Autor

    Hallo liebe Küchenschabe, freut mich, dass Dir der Bericht gefällt! Ein kleiner Nachschlag mit Adressen kommt in den nächsten Tagen noch. In Southall war ich zum ersten Mal; das stand schon länger auf meiner inneren Wunschliste, aber die letzten Londonbesuche waren kurz (und selten). Mit einer wirklich belastbaren Empfehlung kann ich daher dort nicht dienen: Madhu’s hatte ich eigentlich auf dem Plan, aber wir haben dort ausgerechnet den Ruhetag erwischt. (Grr.) Daher bin ich dann eher gespannt, was Du berichtest – für meinen nächsten Londonbesuch! ;-)

  5. Sus

    Solche Reiseberichte liebe ich auch. Und mir scheint, ich müßte auch dringend mal wieder nach London. Danke für die Inspirationen.

    Liebe Grüße, Sus

    P.S.: Sind „damsons“ nicht einfach „Zwetschgen“? Die gibt es bei uns doch auch…

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